Die Sünde Pt. 1

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    • Die Sünde Pt. 1

      Es begann vor etwa drei Jahren, als eine Handvoll Menschen ohne Heimat sich mitten im Berliner Arbeiterviertel Kreuzberg eine Heimat schufen, indem sie eine brachliegende Immobilie direkt in der Spree besiedelten. Damals waren es bloß ein paar Zelte auf einer leeren, trostlosen Fläche, abgestorbenes Gewebe inmitten des pulsierenden Großstadtlebens, reanimiert von den Aufgestoßenen, die die Rolle, die ihnen die Gesellschaft aufzwang, annahmen und sich mit erhobenen Mittelfingern von eben jenen abwandten. Waren das zuerst nur die Sinti und Roma, die einen Zufluchtsort vor dem System suchten, das sie verachtete, schlossen sich ihnen über die folgenden Wochen und Monate immer mehr Menschen an, um sich eine Heimat in diesem Elysium aufzubauen. Obdachlose, Freigeister, Anarchisten, Kriegsflüchtlinge, Abenteuerlustige, Feinde der Gentrifizierung. Ein launenhaftes Kommen und Gehen, das mal wenige Tage, mal Wochen und manchmal sogar Monate für einige dieser Individuen andauerte. Ihre Zahl wuchs dennoch stetig weiter und aus der einstigen Siedlung einiger weniger Zelte erwuchs ein Reich, das aus Wellblech, Bauplanen, Holzpaletten und Sperrmüll geformt wurde, die gesetzlose Siedlung, die von den Medien bald als „Deutschlands erste Favela“ tituliert wurde.

      Es war ein Ort, wie er ihn immer suchte, als er mit seiner Familie aus seinem von Krieg zerrütteten Land in ein anderes Land floh, in dem er sich in jeder Sekunde seiner dortigen Existenz entrückt und unvollständig fühlte. Es war ein Ort, an dem es keine Rolle spielte, wer du in der Vergangenheit warst, denn auf der Cuvry-Brache fragte niemand nach deinem Namen oder den Dingen, die du getan hast. Zwar verrieten die wissenden und gleichzeitig verachtungsvollen Blicke der anderen, dass sie sich sehr wohl bewusst waren, mit wem sie sich den Lebensraum teilten, dennoch wagte es keiner von ihnen, ihn auch nur anzusprechen. Sie hatten seine Nachricht verstanden, als er einen 62-jährigen Berliner Alt-Hippie nächstens aus seiner D.I.Y.-Hütte zog und ihm vor ihren Augen ein gebrochenes Nasenbein, einen angebrochenen Unterkiefer und mehrere gebrochene Rippen bescherte. So wurde er einer von ihnen. So wurde Kriss Dalmi ein Bewohner der Cuvry-Brache.

      Die Schwere seiner Sünde glich dem Himmelsgewölbe des Titanen Atlas, doch ihre unvorstellbare Last machte aus dem Serben einen neuen Menschen. Dies versuchte sich der Mann, der Bleed auf dem kalten Beton des Nicotine & Bacteria-Kellers entweihte, einzureden, als jedes ihrer Worte, die sie am Abend des Brawlin' Rumbles an ihn richtete wie ein königliches Dekret war, dem er sich um jeden Preis unterwerfen würde.

      „Du kannst uns eine kleine Geste anbieten.. Du wirst Blaze die Scheiße aus dem Leib schlagen, bis beide seiner Knie endgültig zerstört sind.. Und dann wirst du Duschen gehen.. dich reinigen, innerlich und äusserlich. Du wirst dir die Zähne richten lassen und dein AstroHappy auf die letzte Reise in den Abfluss schicken.. Du willst eine letzte Chance, Kriss? This is it. Und sie kommt nicht wieder.“


      Das AstroHappy ersoff er im Klo, der Irokese nahm das teerige Schwarz der Kellerbrut an, das Trikot des FK Partizan erhellte für wenige Minuten die Nacht bis davon nur noch Asche übrig blieb. Und damit begann das Warten auf neue Instruktionen der Frau, die seine Königin war und für die er alles tun würde, damit sie ihm irgendwann gestatten würde, sich von seinen Sünden reinzuwaschen. Am Abend des Brawlin' Rumbles war es leicht, sich von dem Laster zu trennen, welches sein Leben bis zu diesem Zeitpunkt bestimmte. Doch mit jedem fortschreitenden Tag, den er ohne seine illegalen Substanzen auskommen musste, wurden die Spuren, die seine Profession an seinem Körper hinterließ, deutlicher, die Fieberträume, in denen sich Bleeds Schluchzen und ihre Schreie mit dem Donnern detonierender Fliegerbomben und hallendem Maschinengewehrfeuers vermengten, echter. Es vergingen Tage, in denen er in seinem provisorischen Heim auf der Cuvry-Brache sich auf einer vom Schimmel dunkelgrün gefleckten Matratze wälzte und seine Gänsehaut erzeugenden Schmerzensschreie die Kreuzberger Nachbarschaft wachhielt. In diesen Nächten, war es der letzte, unangetastete Rest seines Verstandes, der ihn diese selbstgeschaffene Hölle überleben ließ. Die Vernunft tröstete ihn mit der Aussicht auf das Ende des Pfades, der den Duft verbrannten Fleisches in seine Nase steigen ließ und seine Fußsohlen schwarz färbte. Die Aussicht darauf, dass Bleed bald mit ihm in Kontakt treten und sein Leiden beenden würde.
    • Die Sünde Pt. 2

      Wie viel Zeit vergangen war, seitdem er hier lebt, konnte er nicht genau sagen. Er wusste es nicht, weil es keine Rolle spielte. Inzwischen konnte ihm bloß noch der Blick auf sein Smartphone einen Eindruck davon vermitteln. Das Gerät würde ihm jedoch nur bedeutungslose Zahlen anzeigen, ein Datum, eine Uhrzeit. 10.09.2014 – Beginn der U.S. Tour, mit der ersten Show am 12.10.2014 im Madison Square Garden in New York. Für diejenigen in der PCWA, die artig dafür sorgten, dass die Schleppe des sich maßlos überschätzenden Blondchens nicht verschmutzt werden würde, waren das obligatorische Termine. Für ihn hingegen waren es Tage, die wie all die Tage davor eine Prüfung seines Durchhaltevermögens waren, würde seine Gebieterin ihn nicht davor zu sich rufen. Und so lange würde er warten. So lange würde er das Ringen mit den schmiedeeisernen Ketten seines Wahns, seiner Ängste und der Sehnsucht des Vergessens weiterführen und den sirenenartigen Gesang, der von der Ampulle ausgeht, aus seinem Kopf verbannen.

      Die Ampulle. Die Letzte. Sie war Notschalter und Geißel zugleich. Und in dieser nur vom Kerzenschein erhellten Nacht wirkt sie so betörend wie das Parfüm seiner Königin. Sie singt für ihn, spricht zu ihm, lockt mit den Versprechungen der Schmerzlinderung. Für die Dauer eines nervösen Herzschlags glaubt er sogar, in der Reflexion ihrer Oberfläche das Gesicht seiner Königin ausmachen zu können. Aber das wäre absurd. Schließlich ist seine Anwesenheit in dieser aus Unrat geschaffenen Welt nur innerhalb ihrer Grenzen bekannt.

      Kriss Dalmi: „Nein. Nein, nein, nein... Sie würden sich sicher über andere Wege melden. Hier würden sie mich nicht vermuten. Niemand weiß, dass ich hier bin.“

      Die aufgelösten Worte vermengen sich mit dem allgegenwärtigen Grillenzirpen und dem Gelächter ebenso schlafloser Cuvry-Bewohner in der Ferne. Für ein paar Sekunden verharrt er in seiner über der Ampulle gekrümmten Haltung, hält den Atem an und horcht. Es wäre so einfach. Es wäre so einfach einem dieser beschissenen Zigeuner das Gesicht zu zertrümmern, ihm sein Spritzbesteck zu rauben und sich mit einem aufgekochten Schuss ins gedankliche Nirvana zu befördern!

      Kriss Dalmi: „Schlaf... Eine Nacht ruhig schlafen...“

      Seine Finger fahren über die Spanplatte seines aus Bierkästen improvisierten Tisches und wagen zaghaften Kontakt mit dem kleinen Behältnis, das die Aura eines heiligen Artefakts zu umgeben scheint. Als wäre es ein kleines, hilfloses Lebewesen, wiegt er die Ampulle mit äußerster Vorsicht in seiner Hand und verliert sich abermals in düsteren Gedanken.

      Kriss Dalmi: „Es wäre so einfach.“

      Es wäre so einfach, sich dem zu entziehen. Dem Leid. Der Sünde.
      Goldener Schuss.
      Bang!
      Danach Vergessen.
      Ewiges Vergessen.

      Ein kühler Hauch gleitet über seine Unterarme, bringt die Kerzenflammen dazu, unruhig vor sich hinzutänzeln und lenkt seine Aufmerksamkeit weg von den Verheißungen der verbotenen Frucht, hin zur Pforte seines baufälligen Heims.

      Aus den Augenwinkeln bemerkt Dalmi die Schatten, die plötzlich im Türrahmen erscheinen. Auf den ersten Blick sind es nichts weiter als Schemen im dreckigen Halbdunkel dieses "Domizils". Der Serbe weiss, wer sie sind. Es sind seine Boten. Sein Wohl oder Übel.
      Bleed tänzelt durch den kaputten Türrahmen in das Innere, die Stahlringe glitzern an ihren Fingern, die über fleckige Wände gleiten und den Schimmel hinabrieseln lassen.

      Bleed: "Wie passend, KD. Ganz unten angekommen. Nur noch die Wahl zwischen endgültigem Begräbnis und der Hand, die verletzt, um zu erhalten was von dir noch blieb."

      Hinter Bleed taucht der drohende Schatten von Eleven auf. Ihm voran geistert der Zigarettenqualm in das von Fäulnis zerfressene Heim.

      E11: "Wir kommen zur rechten Zeit. Und zur falschen. Nicht wahr, Dalm1?"

      Sein Blick gleitet zur Ampulle in der Hand des Serben. Er kann nicht loslassen. Er muss umklammern, was noch geblieben ist.

      E11: "Nimm es.. Saug es ein. Es ist so leicht. Vielleicht wird es dich befreien von dem Schmerz, der in deinem Schädel schreit. Vielleicht wirst du fliegen, wenn du das Fläschchen geleert ist. Ich habe viele gesehen, die fliegen konnten.. Dafür braucht man nicht mehr als einen Moment der Schwäche.. einen süssen Blitz aus Resignation, der durch dein Innerstes brennt und sich jeglichen Widerstand nimmt. Es ist dein Moment, Dalm1. Willst du fliegen.. oder willst du leiden? Hast du es bereits gekostet? Oder hast du widerstanden? Am Ende des Flugs steht der letzte Aufschlag für ein erbärmlich schwaches Stück Menschenfleisch. Am Ende des Leids steht eine quallvolle Neugeburt..schlimmer als Tod. Weniger verlockend als das Ding in deiner Hand. Aber es ist der einzige Weg, der dich zu uns führen kann. Und zu dir selbst.. deinem NEUEN Selbst."


      Der Blick des Serben gleitet zu der Hand, die die Ampulle umschlossen hält und daraufhin noch fester umschließt, während er die Worte über sich ergehen lässt.

      Worte, mit einer widersprüchlichen Bedeutung für ihn, die wie tausend rostige Messer durch die Luft flirren und sein Fleisch durchbohren, die daraufhin wie nach Kokosöl und Eukalyptus duftender Balsam die vor Eiter triefenden Wunden versiegeln und ausheilen lassen. Bestrafung und Erlösung.

      Sie sind hier, um ihn freizusprechen, endlich freizusprechen von dieser sinnlosen Existenz des Wartens.

      Kriss Dalmi: „Es ist... Ich habe nichts davon genommen seit dem Rumble. Keinen einzigen Tropfen!! Ich schwöre, dass ich clean bin! Nicht mal Jonas Pussy ist so clean wie ich! Sieh! Sieh doch nur!“

      So als ob dies tatsächlich ein verwertbares Indiz für seine soeben getätigte Aussage wäre, fummelt der Belgrader nervös an dem Verschluss der Ampulle herum und hält sie Eleven vor die Nase, der das Behältnis jedoch keines Blickes würdigt. Die anklagende, schwarze Leere in seinen Augen ist allein auf Kriss Dalmi gerichtet.

      E11: "Drei Arten von Menschenmaterial sind von sich an unglaubwürdig."

      Er zählt und spreizt passend dazu die Finger ab.

      E11: "Junkies. Anwälte. Und Menschen, die eine Scheiss Angst haben. Dich treffen mindestens zwei Kategorien wie Dartpfeile ins Bulls Eye. I don't believe your SHIT. Warum hast du das Zeug in der Hand? Als gefickten Glücksbringer? Aufgehoben als Erinnerung an gute Zeiten? Ich habe dir Bedingungen gestellt, KD."

      Eleven dreht den Kopf zur Seite, zu Bleed.

      E11: "Vielleicht ist das nicht angekommen.. ich neige ja dazu, hier und da mal meine Drohungen in verwirrender Gedichtsform ans Opfer zu bringen. Sag mir, Bleed.. hab ich mich irgendwie missverständlich ausgedrückt?"

      Das Apocalypse Girl hat die Arme vor der Brust verschränkt und deutet ein Kopfschütteln an. Die Stimmung in dem Drecksloch steht auf des Messers Schneide. Im wahrsten Sinne..

      Es sind Warnschüsse, die ihre Wirkung nicht verfehlen. Mit einem Poltern schießt der Angeklagte von seinem Stuhl hoch, hastet zu seinen Richtern aus der Tiefe, versenkt seine Knie im Dreck und bietet ihm den Stoff aus flehenden Augen wie eine Gabe dar.

      Kriss Dalmi: „Nehmt es! Ich brauche es nicht mehr. Ich habe es behalten, um mir selbst zu beweisen, dass mein Wille stark genug ist, um seinen Versuchungen zu widerstehen. Aber ich kann es nicht mehr, ich will es nicht haben! Es interessiert mich nicht mehr. Das einzige, das ich suche, ist Vergebung, für das, was ich getan habe. Ich will meine Fehler rückgängig machen, alles wieder rückgängig machen!“

      Immer wieder gleiten die von seiner Schlaflosigkeit blutunterlaufenen Augen hinüber zu Bleed, ohne die ihren dabei jedoch zu finden.

      Kriss Dalmi: „Ich mache alles für dich! Einfach alles!!! Aber vergib mir, vergib mir für das, was ich getan habe.“

      Bleed kostet den Moment aus. Die Hilflosigkeit, das Flehen. Die Abhängigkeit, von der sie sich nährt. Ihre Lippen öffnen sich, ohne Worte zu spenden. Dafür ist es Eleven, der auf Dalmi hinab sieht, als wäre das Urteil schon gefallen.

      E11:"Armselig bist du, Mensch. Du hockst hier als das Sinnbild einer Rasse, die mich in ihrer traurigen Hilflosigkeit amüsiert.. wie Ameisen, die vor dem Feuer flüchten.. Käfer, die sich ohne ihre abgerissenen Gliedmaßen im Kreis drehen, bevor sie verenden. Ein Robert Barker hätte ein Elend wie dieses als notwendige Phase zur Stärkung der eigenen Potenz verkauft. Du hast nichts zu verkaufen, Dalm1. Deine Erlösung muss warten."

      Kriss Dalmi: „W-was?“

      Sein Magen zieht sich zusammen. Deutlich spürt er, wie die Machete seine Bauchdecke durchstößt und in seinen Innereien rührt. Irgendwo schimmert die Hoffnung, dass sein Geist ihm vielleicht einen Streich gespielt hat, aber die Abgründe, die die Augen seines Gegenübers sind, verschlingt sie und spuckt sie wie zum Hohn vor seinen Füßen wieder aus. In ihnen lebt keine Hoffnung, in ihnen lebt nur der Tod.

      Kriss Dalmi: „A-aber, was soll ich denn noch tun? Was soll ich noch anderes tun?? Ich knie bereits zu euren Füßen. Ich bin doch schon ein schon ein Niemand! Kein König der Gewalt, kein Prophet des Wahns, kein Künstler, der mit Blut malt. Ich bin euer höriges Haustier! Jede neuerliche Sekunde wird mir dies wieder ins Gedächtnis gerufen, weil meine Erinnerungen mich teuer für meine Taten bezahlen lassen.“

      E11: "Wir sind nicht zu kaufen.. wir sind nicht zu bestechen. Eine Idee, wie Nicotine & Bacteria, ist kein greifbares Werkzeug, mit dem man sich getrost an der Deckenlampe aufhängen darf.. Ich bestimme, wie lange deine Qual dauern soll und wohin diese Reise für dich gehen wird. Du wirst hier bleiben.. sitzen im Angesicht des Gnadenstosses. Kein Trip ins Land der begrenzten Unmöglichkeiten. Klammer dich an deinen Talisman, bis deine Knöchel bluten.. und warte auf seine Antwort."

      Er deutet mit einem Nicken auf die Ampulle.

      E11: "Kein kalter Entzug. Keine Donuts. Kein beschissener Stuhlkreis. Kein 'Hi, ich bin Kriss'.. Hi Kriss, fuck you! Es ist deine eigene Schwäche.. in deiner eigenen Hand. Deal with it."

      Bleed flüstert ein leises 'Viel Glück'. Dann verschwinden die beiden Schatten aus Dalmi's Sichtfeld.

      Sie sind fort. Und mit ihrem Verschwinden bricht sofort alles aus ihm hervor. Die Angst, die Schuldgefühle, die Sehnsucht. Sie bahnen sich ihren Weg aus seinen Augen, bilden auf der Erde dunkle Kreise unter ihm. Die Veränderung bleibt aus und eine weitere unheilvolle Nacht auf der Cuvry-Brache vergeht...